Sitz der Macht
„Im architektonischen «Musée imaginaire» der Schweizer ist das Berner Bundeshaus fest verankert; es figuriert darin – vor allem wegen seiner Kuppel -– als ein Nationaldenkmal“ titelt die NZZ zum 100-jährigen Jubiläum der Einweihung des Bundeshauses (NZZ 2003). Die Kuppel erinnert an das amerikanische Kapitol in Washington und verkörpert damit: hier sitzt das Zentrum der Macht.
Das Bundeshaus repräsentiert Berns Funktion als Hauptstadt. Am GIUB beschäftigte sich insbesondere die Arbeitsgruppe von Prof. Heike Mayer mit Bern als Hauptstadtregion und führte dazu eine Studie durch, die der Frage nachging, was Hauptstädte, die nicht gleichzeitig die wirtschaftlichen Zentren ihres Landes sind, erfolgreich macht. In der vergleichenden Studie mit anderen sekundären Hauptstädten wie Den Haag, Washington D.C. und Ottawa zog das Projekt Folgerungen und Handlungsempfehlungen für die Schweizer Hauptstadtregion. Ein zentrales Ergebnis war, dass sich die Stadt Bern stärker zu ihrer Funktion als Hauptstadt bekennen und ihre Stärken besser nach aussen vertreten müsste.
Das Bundeshaus verkörpert jedoch auch die institutionalisierte Politik in der Schweiz und steht dabei vor allem für die Frage, wer hier als Politikerin oder Politiker die Schweiz repräsentiert und regiert? Die Schweizer Politik sticht dabei insbesondere im Hinblick auf zwei Merkmale hervor: ihr politisches System der direkten Demokratie und das späte Frauenwahlrecht.
Die direkte Demokratie soll eine direkte Mitsprache der Bevölkerung bei Entscheiden auf allen politischen Ebenen ermöglichen. Für die Schweizerinnen und Schweizer ist die direkte Demokratie ein zentrales Element der Schweizer Staatsordnung. Für viele sind die weltweit einzigartigen Möglichkeiten der Mitbestimmung entscheidend für das politische System der Schweiz, das durch die geographische, kulturelle und sprachliche Vielfalt besonders herausgefordert ist.
Das Bundeshaus ist ein zentraler Austragungsort nicht nur für die geographischen, kulturellen und sprachlichen Unterschiede in der Schweiz, sondern auch für den langen Kampf der Frauenbewegung für das Frauenstimmrecht. Erst am 7. Februar 1971 führte die Schweiz das Frauenwahl- und Stimmrecht ein. „Viel brauchte es“, schreibt die Historikerin Fabienne Amlinger (2021) der Universität Bern, „bis Frauen nicht nur über staatsbürgerliche Pflichten, sondern auch politische Rechte verfügten: über 100 Jahre Kampf, mehr als 80 Vorstösse auf verschiedenen politischen Ebenen, zwei Frauenbewegungen, einen enormen gesellschaftlichen Strukturwandel in den 1960er-Jahren, das Gespött des Auslands über die Rückständigkeit der Schweiz und schliesslich die wachsende Ungeduld der Frauen“. Dass nach der Einführung des Frauenwahl- und Stimmrechts der Kampf für die Schweizer Frauenbewegungen nicht vorbei ist, zeigten die Mobilisierungen für die Frauenstreiks im Jahr 1991, 2019 und 2023. Jeweils am 14. Juni beteiligten sich Hunderttausende Frauen und Verbündete an Protest- und Streikaktionen.

Auf dem Bundesplatz treffen sich auf kleinem Raum die institutionalisierte und aktivistische Politik. Wenn zum Beispiel am 14. Juni 2021 ein Kollektiv von Frauen die Tanzperformance „Un violador en tu camino“ auf dem Bundesplatz aufführt, fordert sie damit nicht nur die Schweizer Politikerinnen und Politiker dazu auf, die systematische Gewalt gegen Frauen politisch zu adressieren, sondern zeigt auch die politische Solidarität mit Frauen weltweit und deren Erfahrungen mit systemischer, patriarchaler und staatlicher Gewalt. Sich Raum zu nehmen und durch die Präsenz im öffentlichen Stadtraum auch politisch sichtbar zu werden, das ist ein zentrales Anliegen aktivistischer Politisierung. Der Bundesplatz fungiert so als Raum für Auseinandersetzungen, Konfrontationen und Solidarität zwischen institutionalisierter und aktivistischer Politik.
Quellen und weiterführende Information
Amlinger, F. (2021) 50 Jahre Frauenstimmrecht – eine kurze Geschichte zu einem langem Kampf. https://anny-klawa-morf.ch/50-jahre-frauenstimmrecht-eine-kurze-geschichte-zu-einem-langen-kampf/, (letzter Zugriff 17. April 2023).
Kaufmann, D. et al. (2016). Bern’s positioning strategies: Escaping the fate of a secondary capital city? Cities. The International Journal of Urban Policy and Planning, 53, 120-129, doi:10.1016/j.cities.2016.02.005
Mayer, H. et al. (2018) The political economy of capital cities. Regions and Cities, 120, London, Routledge. Doi:10.4324/9781315545837
NZZ (2002) Das schweizerische Capitol. https://www.nzz.ch/article81R00-ld.199603?reduced=true, 23. März 2002 (letzter Zugriff am 17. April 2023).
Videos