Im Zeichen der Gentrifizierung
Seit 2017 steht der Neubau an der Lorrainstrasse 25 und hat in diesen sechs Jahren bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. Das Wohnhaus wird als Luxusprojekt mit überteuerten Mieten kritisiert, und ist immer wieder das Ziel von Vandalen, welche das Gebäude mit Farbe «verschönern» oder sogar Scheiben zertrümmern.
Auf dem Areal der ehemaligen Autogarage Serini, welche im Herbst 2014 abgerissen wurde, entstand in der Folge ein Wohnhaus mit neun 4,5-Zimmerwohnungen (Bruttomiete zwischen CHF 3‘300 und CHF 3365) sowie drei 3,5-Zimmerwohnungen (Bruttomiete CHF 2235 bis 3220). Damit wurde das Gebäude zum Sinnbild für die Gentrifizierung, welche seit den 1990er-Jahren in der Lorraine zu beobachten ist. Dabei führt die Aufwertung des Quartiers durch Renovationen und Neubauten zu steigenden Mietpreisen und damit zu einer Verdrängung von einkommensschwachen Bevölkerungsschichten.
Nicht weit von hier, am Centralweg, ist in den letzten Monaten ebenfalls ein neues Wohnhaus entstanden, nachdem das ursprüngliche Projekt (Baumhaus) viel Kritik hervorgerufen hat. Insbesondere wurde befürchtet, dass die Mietpreise unbezahlbar sein würden. Hier hat das Engagement des VLL dazu geführt, dass die Stadt Bern als Bauherrin ein neues Projekt mit einem 50%-Anteil an günstigem Wohnraum ausgearbeitet hat. Während der ganzen Zeit wurde das brachliegende Areal zwischengenutzt. Weitere Anzeichen der Gentrifizierung finden sich überall im Quartier, aber vor allem entlang der Lorrainestrasse, wo in letzter Zeit einige neue Restaurants entstanden sind, bzw. alteingesessene verdrängt wurden. Als prominente Beispiele lassen sich das heutige Restaurant Okra (bis 2010 Handwerkerstübli) oder das Restaurant WerkStadt (bis 2019 eine Spenglerei) erwähnen.
Kurze Geschichte der Lorraine
Der Bau der „Roten Brücke“ und die damit einhergehende Erweiterung der Stadt in Richtung Norden in den 1850er Jahren markiert die Geburtsstunde des Lorrainequartiers. Zu Beginn dieser Entwicklung siedelten sich vor allem Handwerker, Bierbrauer, Wirte und Fuhrhalter – also ein Arbeitermilieu – im neuen Quartier an. Entsprechend war auch die entstehende Bausubstanz ärmlich. Die Lorraine galt als Quartier der armen Leute (VLL 2008: 8). Dank seiner Nähe zum Stadtzentrum und dem Umstand zum Trotz, dass der gesamte Eisenbahnverkehr der Linie Bern – Olten mitten durch das Quartier führte, wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der vorderen Lorraine grössere und bequemere Häuser gebaut, welche eine entsprechende Klientel anzogen (Hebeisen 1952: 19 & 21, VLL 2008: 8). Interessanterweise war die Region der heutigen vorderen westlichen Lorraine (Lorrainestrasse, Nordweg, Schulweg, Seelandweg) bis dahin unbebaut geblieben (Hebeisen 1952: 21).
Die neuere Quartiergeschichte
Nach dem Aufschwung und der regen Bautätigkeit ging es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder abwärts. Viele Geschäfte gingen Konkurs oder zogen weg und auch die Bautätigkeit kam zum Erliegen. Viele der wohlhabenden BewohnerInnen wanderten ab, wodurch die Mietzinse sanken und sich so immer mehr eher ärmere Menschen im Quartier niederliessen. Mit ausgelöst hatte diese Entwicklung der erweiterte städtische Brückenbau und die damit verbundene Erschliessung weiterer Quartiere in unmittelbarer Zentrumsnähe (VLL 2008: 10). Aus heutiger Sicht kam die Einleitung des neuerlichen sozialen Aufstiegs mit der Berner 80er-Bewegung. Der Q(uartier)-Hof und die Brasserie Lorraine waren zu Magneten der Berner Autonomenbewegung geworden. Immer mehr junge Menschen aus der alternativen Szene siedelten sich im Quartier an (Blumer/Tschannen 1999: 43).
(…) Während der 1990er-Jahre hielt der Zustrom jüngerer mittelständischer Menschen an. In der Folge etablierten sich im Quartier diverse neue Bars, Restaurants, Läden und Kunstateliers. Dies führte nicht nur zu einem demographischen Wandel, sondern veränderte auch die bauliche Struktur: Immer mehr Strassenzüge wurden für die zuziehende Mittelschicht saniert, welche sich vom „urban-multikulturellen Flair“, das von der alternativen Szene mit etabliert worden war, angezogen fühlten (Falco 2007). Diese Sanierungsarbeiten erfolgten meist nur kleinräumig und unkoordiniert, was vor allem eine Folge der historisch gewachsenen kleinräumigen Besitz- und Überbauungsstrukturen war. Es ist gerade diese Vielfalt der Bebauung, welche die Lorraine für viele nebst des „Lifestyles“ attraktiv macht (Stadt Bern 2007b: 16). Dennoch haftete der Lorraine bis zum Ende der 1990er der schlechte Ruf des „Ghettos“ an. Dafür verantwortlich war in erster Linie der vergleichsweise hohe AusländerInnen-Anteil, die zuziehenden AktivistInnen, der gesamthaft tiefe soziale Status des Quartiers (Stienen/Blumer 2006: 91) sowie das ebenfalls ansässige Sex-Gewerbe, das noch heute im Quartier präsent ist (Schwendener 2008). (…) Heute [2009] zeigt sich, dass die Lorraine ihr negatives Image abschütteln konnte, das alternative Flair aber bis anhin behalten hat. (…) Das Quartier steht heute vor einer neuen Herausforderung, denn der Wandel vom „Arbeiterquartier zum Trendviertel“ (Ott 2008c) hinterlässt langsam, aber sicher seine Spuren und zieht immer mehr Menschen an, was dazu führte, dass der Druck auf den Wohnraum qualitativ wie quantitativ deutlich zugenommen hat.
Quellen und weiterführende Information
Blumer, Daniel/ Tschannen, Pia (1999): „Wer hat das Sagen im Quartier?“: Einflussmöglichkeiten von Akteurgruppen auf die Entwicklung zweier Quartiere der Stadt Bern (Breitenrain und Lorraine), Uni Bern, Institut für Soziologie.
Falco, Daniel di (2007): Der Kampf um die richtige Ordnung, Der kleine Bund, 24.2.2007, Bern.
Hebeisen, Adolf 1952: Die Lorraine in Bern: Ursprung, Werden und ihr heutiges Sein. Verlag Paul Haupt, Bern.
Mullis, Daniel (2009): Gentrification und Neoliberalisierung: Die Berner Stadtplanung im Fokus. Eine kritische Analyse der Stadtplanungsdokumente am Beispiel des Lorrainequartiers, Bern: Forschungsberichte des Geographischen Instituts der Universität Bern.
Ott, Bernhard (2008): Quartier in Bewegung, Der Bund, 12.12.2008, Bern.
Stadt Bern (2007): Gesamtplanung Lorraine, Präsidialdirektion, Stadtplanungsamt der Stadt Bern.
Stienen, Angela/ Blumer, Daniel (2006): Problemquartiere? Die Logik sozialräumlicher Segregation, In: Stienen, Angela (Hrsg.): Integrationsmaschine Stadt?: interkulturelle Beziehungsdynamiken am Beispiel von Bern, Bern, Haupt Verlag, S. 83-211.
Schwendener, Pascal (2008): Rote Karte für Sexsalons, Der Bund, 18.12.2008, Bern.
Verein für ein lebendiges Lorrainequartier VLL (Hrsg.) 2008: Hommage an ein Berner Stadtquartier. Läbigi Lorraine, Verein für eine lebendiges Lorrainequartier, Vertrieb: Buchhandlung Sinwel, Bern.
Stadttour Bärn isch eso: Boule: Lorrainepark
Bildquellen
Garage Serini: https://www.fotohaense.ch/index.php/fotogalerien/bern/bern-nord-lorraine
Wohnhaus Platanenweg: https://www.elbegiovanelli.ch/referenzen/neubau-lorrainestrasse-25-bern